Minden. Unmut und Sorge macht sich auch in Minden breit, seit der neue Runderlass für Schulen am 5. Juli vom Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen herausgegeben, wurde. Dieser regelt ab dem 1. August 2016 den zukünftigen Unterricht für zugewanderte Schülerinnen und Schüler neu. Danach sind ab 1. August 2017 Vorbereitungs- und Auffangklassen – so genannte „internationale Klassen“ – nur noch in Ausnahmefällen vorgesehen. Stattdessen sollen die zugewanderten Mädchen und Jungen direkt in die Klassen nach ihrem Alter zugewiesen werden und bei Bedarf Sprachförderunterricht erhalten.
Die Stadt wurde ebenso wie die Mindener Schulen von diesem neuen Erlass, der zum Ferienbeginn versandt wurde, völlig überrascht. Weder die Praktiker vor Ort noch die kommunalen Spitzenverbände, wie der Städtetag NRW, noch die Lehrer-Gewerkschaften wurden in die Entscheidungsfindung einbezogen. Auch gibt es bereits heftige Kritik aus den Reihen der Opposition in der Landespolitik. Viele Beteiligte vermissen in dem Papier klare Handlungsrichtlinien dazu, wie ab dem 1. August verfahren werden soll, und auch notwendige Spielräume.
„Wir wollen und müssen als Kommune in dieser Sache die Stimme erheben“, macht Regina-Dolores Stieler-Hinz, Beigeordnete für Bildung, Kultur, Sport und Freizeit, zum Auftakt einer Pressekonferenz am vergangenen Dienstag (12. Juli) deutlich. Ziel der Stadt Minden sei es, die bestmögliche Bildung für alle zu bieten und Chancengerechtigkeit zu garantieren. Bildung sei der Schlüsselfaktor für eine gute Integration und die könne nicht gelingen, wenn Kinder und Jugendliche ohne jegliche deutsche Sprachkenntnisse sofort nach ihrer Ankunft in Minden auf Klassen verteilt würden, so Stieler-Hinz weiter. Das Modell der eingerichteten Auffang- und Vorbereitungsklassen an den weiterführenden Schulen habe sich – auch wenn es noch nicht ganz optimal sei – insgesamt bewährt.
Es gibt in Minden derzeit elf Auffang- bzw. Vorbereitungsklassen mit ca. 150 Schülerinnen und Schülern an den weiterführenden Schulen. „Hier werden die jungen Flüchtlinge maximal zwei Jahre auf den Einstieg in den regulären Unterrichtsbetrieb vorbereitet. Je nach sprachlichem Stand nehmen sie in bestimmten Fächern auch am regulären Unterricht teil“, so Horst Grüner, Leiter des Bereiches Bildung und Sport. Das Schulbüro der Stadt und auch die Schulleitungen befürchten, dass bei Umsetzung dieses neuen Erlasses die sprachliche und kulturelle Integration der jungen Zuwanderer erheblich erschwert, wenn nicht gar verhindert wird. Die internationalen Klassen seien für die Schülerinnen und Schüler, von denen viele auch traumatisiert seien, ein „Schutzraum“. Hier können sie erst einmal „in Ruhe ankommen und mit unseren Regeln vertraut gemacht werden“, so Heike Ramin, Koordinatorin für die Schulsozialarbeit bei der Stadt Minden.
Der neue Erlass gebe auf viele Fragen keine Antworten, kritisiert die Leiterin der Freiherr-von-Vincke-Realschule, Ria Urban. Den Schulen werde mit dem neuen Erlass Flexibilität genommen. Auch sei die Frage der künftig aufzubringenden Ressourcen unbeantwortet. Nach dem neuen Modell sollen nach einer Übergangsphase von einem Jahr die internationalen Klassen aufgelöst werden. Dafür gibt es derzeit vom Land NRW zusätzliche Stellenzuweisungen. Mit dem neuen Erlass sollen die zugewanderten Mädchen und Jungen auf vorhandene, ohnehin meist volle Klassen verteilt werden. Der in fast allen Fällen notwendige Sprachunterricht von maximal zwölf Stunden soll künftig aus dem vorhandenen Kollegium organisiert werden. Das sieht auch Cordula Küppers, Leiterin des Ratsgymnasiums, sehr kritisch. „Ohne weitere Lehrer/innen obendrauf, wird das nicht funktionieren“, so Küppers.
Für Unmut sorgt auch, dass in dem neuen Erlass gar nicht geregelt ist, wer die zugewanderten Schüler/innen beurteilt. Das sei nicht vorgesehen, lediglich die Einstufung nach dem Alter, so Cordula Küppers: „Wenn das so kommt, dann können Potenziale nicht erkannt und gefördert werden wie jetzt, sondern dann verwalten wir die jungen Zuwanderer lediglich.“ Um einen Bildungserfolg zu erzielen, müssten die Schüler/innen zunächst die gesprochene, die gelesene und die schriftliche Sprache richtig lernen.
In dem neuen Papier finde sich keine Aussage mehr darüber, dass ein Schulabschluss angestrebt werde, kritisieren Schulleitungen in der Pressekonferenz. Auch mögliche Ausnahmereglungen für das Erreichen eines Abiturs gebe es künftig nicht mehr, wofür ein junger Flüchtling jetzt maximal vier Jahre mehr Zeit habe, als es die Regelschulzeit (acht Jahre) vorsehe, macht Uwe Voelzke, Leiter des Besselgymnasiums, als Vertreter der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) deutlich. Er befürchtet, dass mit dem neuen Modell kein einziger Flüchtling mehr das Abitur schaffen kann. Das Scheitern bei einer Direkt-Integration in die Klassen sei vorprogrammiert, so Voelzke weiter.
„Wir produzieren Misserfolge, wenn wir die jungen Flüchtlinge nicht intensiv mit Sprachförderung auf den Unterricht vorbereiten“, meint auch Dieter Stuke, Leiter der Kurt-Tucholsky-Gesamtschule (KTG) zusammen. Ziel sei es gewesen, die Schülerinnen und Schüler in den internationalen Klassen so schnell wie möglich in den regulären Unterricht zu integrieren. Aber die Ausgangslagen seien sehr unterschiedlich. So gebe es junge Flüchtlinge, die in ihrem Heimatland gar nicht lesen und schreiben gelernt haben, sowie welche, die aus dem arabischen Raum kommen und die die lateinische Schrift nicht lesen und schreiben können und auch solche, die gute Vorkenntnisse haben, aber eben kein Deutsch können. „Das ist eine riesige pädagogische Aufgabe“, so Stuke. Um die Kinder und Jugendlichen so gut wie möglich fördern zu können, „müssen wir sie erstmal kennen lernen und sehen, was sie können und wo sie Talente haben.“
Christa Amshoff, kommissarische Leiterin der Käthe-Kollwitz-Realschule berichtet von Erfahrungen mit zugewanderten Schülerinnen und Schülern, die an ihrer Schule neben ihrem Sprach-Förderunterricht auch sofort in den regulären Unterricht integriert werden mussten, weil speziell ausgebildete Deutschlehrer/innen nicht zur Verfügung standen. „Sie haben die Buchstaben von der Tafel abgemalt, den Inhalt der Wörter und Sätze aber gar nicht verstanden“, so Amshoff. Zudem seien die Schülerinnen und Schüler schnell frustriert gewesen, weil sie überhaupt nicht mitkamen. Seit Februar gibt es an der Käthe-Kollwitz-Realschule eine Vorbereitungsklasse. Mit der altersgemäßen Integration dieser Schüler/innen in den regulären Unterricht , so wie es der neue Erlass nun vorsieht, „sind wir jetzt schon auf den Bauch gefallen“. Diese Schüler/innen bräuchten eine ganz andere, intensive Unterstützung und müssten individuell, nicht nach ihrem Alter in die Klassen integriert werden.
Die Frage, die sich generell stelle, laute: „Wie schaffen wir Integration?“, fasst Regina-Dolores Stieler-Hinz zusammen. „Auf keinen Fall mit der Brechstange“, gibt sie gleich die Antwort. Städte und Schulen müssten so schnell wie möglich mit dem Ministerium ins Gespräch kommen, um über Nachbesserungen und Konkretisierungen zu sprechen, fordert sie. Auch das Thema der an den Schulen nicht vorhandenen, beziehungsweise nur sehr geringen Ressourcen für das neue Modell sollte unbedingt angesprochen werden. „Es müssen praxisnahe Lösungen für die Integration junger Menschen geschaffen werden und dieses nicht durch die Hintertür, sondern mit Beteiligung“, so Stieler-Hinz abschließend.