Glückliches Ende in der Mindener Notunterkunft

Minden. Am Rande von oft schlimmen Fluchterlebnissen und Dramen, die sich täglich vor allem in Griechenland und den Balkanländern abspielen, vor dem Hintergrund tausender Flüchtlinge, die weiter nach Deutschland kommen, hier aufgenommen und untergebracht werden – oftmals in Hallen, Zelten und Schulen – gibt es auch andere Geschichten, schöne Geschichten mit einem „Happy End“. Was mit einem Drama an der türkischen Küste vor mehr als fünf Monaten begann, endete nun glücklich in der Flüchtlings-Notunterkunft. Tränen der Erleichterung und dicke Freudentränen flossen rund vor einer Woche bei einer fünfköpfigen afghanischen Familie, die seit Ende August in Minden in einer Sporthalle untergebracht ist.

 

Mutter Fatma und Vater Mahmood konnten nach fast einem halben Jahr endlich ihren lange vermissten Sohn wieder in die Arme schließen. Als der Zwölfjährige aus einem Auto mit seinem Vormund ausstieg, rannte der Vater auf ihn zu, dann auch die Mutter. Es gab Gänsehaut und Freudentränen von einigen Bewohnern, den Johannitern, die Flüchtlinge betreuen, und sogar bei den Feuerwehrleuten der Brandwache. „Alle haben sich wahnsinnig gefreut und waren sehr gerührt“, berichtet Oliver Toelken, der seit Anfang August Betreuungsleiter in der Mindener Notunterkunft ist und der sich zäh – neben vielen anderen Beteiligten – dafür eingesetzt hat, dass der Junge wieder mit seiner Familie zusammengeführt werden konnte.

 

Dass Sajjad lebt und wohlbehalten in Deutschland angekommen war, hat die Familie vor drei Monaten in Athen erfahren – über einen Facebook-Account, den der Junge in Deutschland in einem Heim für Kinder und Jugendliche eingerichtet hatte, um seine Eltern, seinen Bruder und seine kleine Schwester wieder zu finden. „Das war sehr klug. Denn der Junge besaß kein Mobiltelefon und konnte daher wochenlang keinen Kontakt aufnehmen“, berichtet der Vater. Er und die Mutter haben mehr als zwei Monate nach ihrem Sohn gesucht, der auf der Flucht von der türkischen Küste nach Griechenland in einem anderen Boot als die Eltern saß. Schleuser hatten die Familie getrennt, nachdem das erste von zwei Schauchbooten voll war, in dem Sajjad saß. Das zweite sollte unmittelbar danach folgen. „Doch dann wurden wir anderen von der türkischen Grenzpolizei gefasst und mehr als eine Woche festgehalten“, berichtet Vater Mahmood.

 

Mit der Freilassung wurde das Verbot erteilt, dass die Familie keinen erneuten Versuch unternehmen darf, mit dem Boot nach Griechenland zu gelangen. Das haben sie dann doch gemacht und mussten einen weiteren Schleuser bezahlen. In Griechenland angekommen, steuerten sie die Millionenstadt Athen an. Hier vermuteten sie ihren Sohn wiederzufinden, weil die Familie vorher darüber gesprochen hatte. Finales Ziel der langen Flucht sollte immer Deutschland sein. Sie wohnten in Zelten und suchten verzweifelt – wochenlang in der großen Stadt. „Ich werde nicht eher weitergehen, bevor ich nicht meinen Sohn wiederhabe.“ Diesen Satz hat Mutter Fatma immer und immer wieder gesagt, berichtet sie selbst. Sie wollte nicht glauben, dass ihr Sohn vielleicht auch tot sein könnte.

 

Sajjad, der bereits ein wenig deutsch spricht, berichtet selbst, was er erlebt hat – von dem Zeitpunkt an, wo er seine Familie verloren hatte: Mit dem Boot in Griechenland angekommen, wartete er zunächst einige Stunden auf seine Eltern und Geschwister. Als diese nicht kamen wurde er von anderen Mit-Flüchtenden gedrängt, sich ihnen anzuschließen. Weil es für den Jungen zu gefährlich gewesen wäre, allein an der griechischen Küste zurückzubleiben – was er nach Stunden langen Wartens selbst eingesehen hatte – schloss er sich der Gruppe an. Zu dieser gehörte auch eine afghanische Familie, die den Jungen aufnahm. „Die Familie versorgte mich mit Essen und hat auch die Schleuser bezahlt“, erzählt Sajjad. An nahezu jeder neuen Grenze musste erneut gezahlt werden, so der Junge. Zu Fuß machte sich die kleine Gruppe auf den Weg nach und durch Ungarn. In Österreich trennten sich ihre Wege. Die afghanische Familie wollte weiter nach Schweden reisen und setzte Sajjad in ein Taxi nach Deutschland, wo er schließlich in Passau ankam, als alleinreisendes Kind aufgenommen und registriert wurde. Später erhielt er über das dortige Jugendamt ein Vormund und landete letztlich in einer Einrichtung für Kinder und Jugendliche nahe Nürnberg. Hier eröffnete er seinen Facebook-Account.

 

Parallel zur täglichen aktiven Suche in Athen hatte seine Familie derweil auch begonnen, das weltweite Netz für sich zu nutzen. Der Bruder von Mutter Fatma kam auf die Idee. Das lange Ausharren in Athen und die hartnäckige Online-Suche führte schließlich zu einer Facebook-Seite, die Sohn Sajjad offenbar erst vor kurzem eingerichtet hatte. „Die Freude bei allen war nach Wochen des Bangens und Hoffens riesig“, berichtet Vater Mahmood. So konnten sie weiter Kontakt halten, aber fast zweitausend Kilometer auf dem Landweg trennen sie noch. Nach der guten Nachricht machte sich die Familie auf den Weg zum eigentlichen Ziel ihrer Flucht, die in der afghanischen Provinz Rasni begann: die Bundesrepublik Deutschland.

 

Meist zu Fuß durchquerte die Familie wochenlang die Balkanländer, kam schließlich über Österreich nach Deutschland. In Bayern angekommen wurden sie nach München gebracht – nicht wissend, dass sie nicht weit von ihrem Sohn entfernt hier die Nacht verbrachten. Nächste Station war die Erstaufnahme-Einrichtung der Zentralen Ausländerbehörde (ZAB) in Bielefeld. Schon in München und auch hier fragte Vater Mahmood, ob es möglich ist, seinen Sohn zu treffen, der in Deutschland sei – allein. Er erhielt die Auskunft, dass dies so nicht möglich sei, er erst registriert werden müsse. In der Mindener Notunterkunft kam die Familie schließlich Ende August an – noch nicht registriert. Die Papiere waren auf der Flucht verloren gegangen. Damit teilte sie das Schicksal von vielen anderen, die auf „ihr Interview“, die Aufnahme der Personalien und die polizeidienstliche Erkennung warteten.

 

Es verging ein weiterer Monat in der Trennung von Familie und Sohn. Denn zu dem Zeitpunkt als die Familie in Deutschland ankam, waren die Zentralen Ausländerbehörden völlig überlastet, die Erstaufnahmeeinrichtungen in Nordrhein-Westfalen mehrmals wegen Überfüllung geschlossen. So wurde der größte Teil der Flüchtlinge zunächst nicht registriert in Notunterkünften – wie in Minden – untergebracht. Bundespolizisten wurden von der ZAB geschult, um die Registrierungen extern vornehmen zu können. An zwei Tagen Ende September (23./24.) wurden endlich alle 300 Flüchtlinge in der Mindener Unterkunft registriert und erhielten das für die nächsten Wochen wichtigste Papier: die BÜMA (Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender). In Mahmoods BÜMA wurde auch sein Sohn Sajjad eingetragen. Mahmood sprach die Polizeibeamten in der Notunterkunft auf seinen Sohn in Bayern an. Diese versprachen, sich zu kümmern und die Informationen an die zuständigen Stellen in München weiterzugeben. Zu diesem Zeitpunkt erfuhr auch Einrichtungsleiter Oliver Toelken von „dem verlorenen Sohn“ der Familie.

 

Ein Kontakt zwischen den zuständigen Behörden – die Polizei in Bayern und Nordrhein-Westfalen, die lokalen Ausländerbehörden in beiden Bundesländern sowie die Jugendämter – wurde hergestellt und dabei festgestellt, dass es unterschiedliche Schreibweisen der Namen in Mahmoods BÜMA und den Papieren von Sajjad gab, die bei der Registrierung in Passau erstellt wurden. „Dazu muss man wissen, dass es in Afghanistan nicht nur mehr als 40 Sprachen gibt, sondern auch verschiedene Schriften gibt, die dem Persischen ähneln, aber auch andere und mehr Buchstaben und wir haben“, erklärt Salma Marzban, hauptamtliche Mitarbeiterin der Johannitern, die das Gespräch von Dari auf Deutsch und umgekehrt übersetzt. So kam es offenbar zu unterschiedlichen Schreibweisen vom Vor- und Familiennamen Sajjads.

 

Eine weitere Hürde tat sich auf. Ein Beweis musste her. Vater Mahmood ließ ein Foto von seiner Familie aus glücklicheren Tagen, das er auf seinem Handy gespeichert hatte, in einem Mindener Geschäft entwickeln. Die Johanniter schickten dieses den zuständigen Behörden in Bayern. Doch auch das reichte – trotz deutlich erkennbarer Ähnlichkeit zwischen Sajjad und seinem zehnjährigen Bruder – zunächst nicht, um die Familie und den Sohn zusammen zu führen. Das Mindener Jugendamt nahm nach dem Hinweis von Oliver Toelken auf weitere Schwierigkeiten erneut Kontakt mit dem zuständigen Jugendamt in Süddeutschland auf und sprach auch mit dem Vormund. „Da konnte man wirklich verzweifeln, wie schwierig das alles war“, berichtet Toelken, der der Familie versprochen hatte, dass sie spätestens Weihnachten ihren Sohn wieder sieht.

 

Eine weitere Woche, in der nichts passierte, ging ins Land. Doch dann kam plötzlich und unterwartet ein Anruf aus München. Der Junge darf mit seinem Vormund für einen Tag „zu einer Gegenüberstellung“ in die Mindener Notunterkunft kommen, so die Nachricht. Am nächsten Tag fuhr ein Auto aus Münchener Kennzeichen in der Notunterkunft vor. Überglücklich konnte sich alle in die Arme schließen. “Diese Szene berührte alle hier sehr, die das mitbekommen haben“, erinnert sich JUH-Mitarbeiterin Salma Marzban an den Tag Ende Oktober. Oliver Toelken war da selbst nicht vor Ort, was er heute sehr bedauert.

 

Die immer noch mit der Ankunft vorhandenen Zweifel des Vormundes, dass Sajjads Familie hier gelandet war, zerstreuten sich bereits nach einigen Minuten. Noch deutlicher als auf dem zugeschickten Foto ließ sich die Ähnlichkeit zwischen den beiden Brüdern sowie Sajjad und seiner Mutter erkennen. Das überzeugte den Vormund letztlich fast und endgültig, als Sajjads Bruder energisch rief: „Wenn Sie meinen Bruder wieder mitnehmen, will ich auch mitkommen“. Der Vormund entschied spontan, den Jungen nicht wieder nach Bayern mitzunehmen, was eigentlich vorgesehen war. Die im Heim zurückgelassenen Sachen waren Sajjad in diesem glücklichen Moment vollkommen egal. Sie wurden einige Tage später nach Minden in die Notunterkunft geschickt.

 

Ende gut alles gut. Aber die Geschichte dieser afghanischen Familie nimmt – nun gemeinsam – ihren weiteren Verlauf. Denn am heutigen Donnerstag, 12. November, sind alle fünf aus Minden abgereist. Die Bezirksregierung Arnsberg hat am vergangenen Dienstag (10. November) endlich die lang ersehnte Zuweisung der Familie an eine Stadt erteilt. Hier wird sie voraussichtlich in einer Wohnung unterkommen. Irgendwo in Nordrhein-Westfalen hoffen sie nun, dass das Asylverfahren erfolgreich verläuft und sie in Deutschland ein neues Leben beginnen können.

 

© Text und Bild: Susann Lewerenz, Stadt Minden
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