Das wirklich wahre Leben

Eine Schulveranstaltung sollte es nicht sein, auch wenn die Vortragenden noch Schüler sind, eher das wahre Leben.

 

Soviel war zu Beginn des U20 Poetry Slam am neunten März im Hamburger Hof – Ameise Kulturhügel klar. Zu einem gewissen Teil war es auch selbstverständliche, denn es gehört schließlich zu den Zielen eines jeden Poetry Slam, seit sie 1986 in Chicago ihren Ursprung fanden, etwas über das wahre Leben zu sagen. Aber was kann ein U20-jähriger angesichts der ganzen Teenie-Biografien von Justin Bieber oder Miley Cyrus schon über das Leben sagen? Wer jedoch so denkt, liegt völlig daneben, denn was die Jugendlichen an diesem Abend vortrugen war absolut spitze und ganz tief im wahren Leben. Mittendrin.

 

Volles Haus
Der Zuschauerraum war bis auf den letzten Platz gefüllt. Die jungen Erwachsenen oben auf der Bühne unter den Scheinwerfern wirkten ein wenig blass und aufgeregt. Kein Wunder, ist es doch für viele der erste Poetry Slam, an dem sie teilnehmen. Wenn dann auch noch viele vertraute Gesichter im Publikum sitzen und mit der kritischen Sicht eines Bekannten, das aufs Papier gebannte Seelenleben des Vortragenden sezieren, kann und darf es einem schon mulmig werden.

 

Ermittlung der Jurymitglieder
Bevor es losging stellte der Moderator die Jury vor, die die Qualität der Texte bewerten und am Ende einen Sieger ermitteln sollte. Unterstützt wurden sie durch drei zusätzliche Jurymitglieder, die per Zufallaus dem Publikum ausgesucht wurden.

 

Zu belehrender Auftritt des Moderators
In der gespannten Erwartungshaltung, die die Atmosphäre im Hamburger Hof bestimmte, wirkte der einleitende und endlos scheinende Monolog des Moderators schon fast etwas deplatziert. Doch im Dämmerlicht des Ameise –Kulturhügels kam gottlob kein Schul-Aula-Ambiente auf. Das änderte sich aber leider ein wenig, als der Moderator den Vortragskodex verlass: Er verbat unflätige Bemerkungen und Gossensprache. Nun sind Verbote in der Literatur mit Vorsicht zu genießen.

 

Moralische Regelvorgaben nicht sinnvoll
Ein zweites „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche war hier nun wirklich nicht zu erwarten und im Angesicht eines Charles Bukowskis, wirkt auch Roches Offenbarungsroman erschreckend zahnlos. Wenn nun den Autoren bestimmte Wörter verboten werden, ihr Ausdruck somit reglementiert, ist das dann noch Literatur, ist das Kunst oder schon Zensur? Literatur darf unflätig sein. Literatur darf auch hübsch und zahm sein. Das entscheidet der Autor in seinem Werk – egal, wie alt er oder sie sein mag. Kein Moderator oder die Richtlinien eines Poetry-Slam sollten das bestimmen. Auch nicht, wenn Slamer-schaft und Publikum größtenteils aus Schülern, Eltern und Lehrern bestehen. Freiheit schafft großartige Geschichten, Regeln bestenfalls Sachbücher. In der Broschüre über das Literaturfest wurde noch vollmundig angekündigt, dass der Fantasie keine Grenzen gesetzt wären. Im Angesicht einer Autoren-Beschneidung, scheint es allerdings nur eine hohle Phrase gewesen zu sein. Werbesprache eben.

 

Hohe Qualität der Vorträge
Doch als dann endlich die Slamer und vor allem Slamerinnen an das Mikrofon traten, zerstreuten sich alle vorangegangenen Zweifel, ob das hier gebotene tatsächlich Literatur oder nur Pennäler Potpourri sei. Die Geschichten, die warmherzig, manchmal überzeichnet und humorvoll mit einem guten Gespür für Timing vorgetragen wurden, zeigten, dass sich diese jungen Autoren beim Verfassen ihrer Geschichten nicht zurückgenommen hatten. Ob es der alltägliche Kampf mit dem kleinen Bruder, der erotische Kuss der Muse, der Hosenkauf bei C&A oder die vom Aussterben bedrohte Art des Müllmannes war, die U20-Slamer zeigten Herz und Seele in ihren Texten und gaben sich vor allen Dingen erstaunlich erwachsen. So war am Ende doch eines ganz klar: Man muss die schreibende Zunft der U20-jährigen nicht übermäßig beschützen, sie wissen, was sie tun. Und: Sie wissen mehr vom wahren Leben, als es sich mancher Erwachsene eingestehen würde.

 

» Mindener Literaturfest 2012

 

 

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