Gefragt, aber noch längst nicht perfekt: Ganztagsschulen in Deutschland

Die 4. JAKO-O Bildungsstudie ergab: 37 Prozent der Eltern von Ganztagsschülern sehen deutlichen oder viel Verbesserungsbedarf bei der individuellen Förderung. Jeweils 25 Prozent kritisieren die Hausaufgabenbetreuung sowie die unzureichende Kommunikation zwischen Pädagogen und Eltern als Schwachpunkt.
Die 4. JAKO-O Bildungsstudie ergab: 37 Prozent der Eltern von Ganztagsschülern sehen deutlichen oder viel Verbesserungsbedarf bei der individuellen Förderung. Jeweils 25 Prozent kritisieren die Hausaufgabenbetreuung sowie die unzureichende Kommunikation zwischen Pädagogen und Eltern als Schwachpunkt.

Bad Rodach (ots).  Schule von 8 bis 13 Uhr? Was in Deutschland nach wie vor Standard ist, gilt in vielen anderen Ländern schon lange als Auslaufmodell. Ganztagsschulen sind in Europa ebenso wie in Asien oder Amerika an der Tagesordnung. Wenn es nach den Eltern schulpflichtiger Kinder ginge, wäre das in Deutschland auch der Fall: 72 Prozent wünschen sich laut der aktuellen 4. JAKO-O Bildungsstudie einen Ganztagsschulplatz für ihr Kind, aber nur 47 Prozent der befragten Eltern haben aktuell tatsächlich einen solchen Platz.

Zahlreiche Bildungsexperten sehen Ganztagsschulen als Schlüssel zu mehr Bildungsgerechtigkeit und einem allgemein höheren Bildungsniveau. Die Ergebnisse der PISA-Studien scheinen ihnen dabei Recht zu geben. Regelmäßig stehen hier Länder mit einem gut ausgebauten Ganztagsschulsystem ganz oben im Ranking – etwa Kanada, Singapur und Estland.

Ein Blick auf die Schulen in diesen Ländern zeigt auch, was sich an vielen der bereits bestehenden Ganztagsschulen in Deutschland noch ändern sollte. Immerhin sehen laut der 4. JAKO-O Bildungsstudie 37 Prozent der Eltern von Ganztagsschülern zum Beispiel deutlichen oder viel Verbesserungsbedarf bei der individuellen Förderung. Jeweils 25 Prozent kritisieren die Hausaufgabenbetreuung sowie die unzureichende Kommunikation zwischen Pädagogen und Eltern als Schwachpunkt. “Es geht also in Deutschland nicht nur darum, die Zahl der Ganztagsschulen weiter massiv zu erhöhen. Nicht weniger wichtig ist es, ihre pädagogische Qualität zu verbessern”, sagt Prof. em. Dr. Klaus-Jürgen Tillmann von der Universität Bielefeld, der die JAKO-O Bildungsstudie wissenschaftlich begleitet.

Die Schule als Stadtteilzentrum: Kanada

Als Einwanderungsland ist Kanada von einer multikulturellen Vielfalt geprägt. Zwei Drittel der Bevölkerung sprechen Englisch oder Französisch. Ein Drittel der Kanadier hat eine andere Muttersprache.

Schulen spielen eine elementare Rolle bei der Integration. Ab dem 4. Lebensjahr gibt es kostenlose Kindertagesstätten, die an die Schulen angeschlossen sind. Die Schulpflicht beginnt mit dem 6. Lebensjahr. Unterrichtet wird von der Kita bis einschließlich Klasse 9 inklusiv. Bei Bedarf wird für Kinder mit Behinderungen, Lernschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten ein individueller Erziehungsplan entwickelt.

Der Schultag dauert in der Regel von 8:30 Uhr bis 15:30 Uhr. In allen Schulen gibt es ein gemeinsames Mittagessen. Der Schultag ist rhythmisiert und es wird viel fächerübergreifend gearbeitet. Arbeitsblöcke wechseln sich mit Pausen und Bewegungsphasen ab. Dabei wird bewusst viel Raum für informelle Kommunikation gelassen. Die Idee dahinter: Kinder lernen nicht nur im Unterricht, sondern vor allem im Gespräch oder Spiel miteinander – egal ob es um Sprache oder Sozialverhalten geht.

Die Schulen sind so konzipiert, dass sie den kulturellen Lebensmittelpunkt im Stadtteil bilden. Dafür wird viel Geld ausgegeben: Kanada investiert 8 Prozent des Bruttosozialprodukts (BIP) in Bildung (zum Vergleich: in Deutschland sind es 3 Prozent). Die Schulen sind entsprechend modern, gut ausgestattet, bieten viel Platz für Bewegung drinnen und draußen und verfügen über viel Personal.

Integration über die Schule bezieht auch die Eltern mit ein. Dazu gehört, dass sie die Schulbibliothek ebenso nutzen können wie ihre Kinder. Außerdem werden Eltern gezielt für die Mitarbeit in der Schule angeworben und geschult.

Kreativität trifft Disziplin: Singapur

Singapur ist seit Jahren einer der Spitzenreiter in allen drei PISA-Disziplinen. Ob in Naturwissenschaften, Mathematik oder beim Leseverständnis: Die Schüler aus dem südostasiatischen Stadtstaat erzielen konstant weit überdurchschnittliche Ergebnisse. Wie die Kinder und Jugendlichen das schaffen? Mit sehr viel Fleiß. Und einem Schulsystem, das nicht nur auf den Ganztag, sondern auch auf Ganzheitlichkeit setzt.

Der Schultag in der 5-Millionen-Metropole startet früh: Schulbeginn ist in der Regel um 7:30 Uhr, Schulschluss zwischen 15 und 16 Uhr. Für die meisten Schüler geht es danach noch zu privaten Tutoren, bei denen der Lernstoff für die kommenden Tage vorgearbeitet wird. Dazu kommen noch die täglichen Hausaufgaben und das Lernen für Prüfungen.

In den Klassen sitzen bis zu 40 Schüler, die von einem Lehrer betreut werden. Trotzdem findet nur wenig klassischer Frontalunterricht statt. Stattdessen wird viel in Gruppen gearbeitet. Damit das funktioniert, können bei Bedarf zusätzliche Lehrer aus einem für alle zur Verfügung stehenden Pool abgerufen werden. Zudem sind alle Schülertische mit Computermonitoren ausgestattet. Fragen können auch online auf einer Lernplattform gestellt werden.

Entgegen aller “Pauk-Klischees” haben sich die Schulen in Singapur mittlerweile weitgehend von traditionellen Unterrichtsmethoden und der klassischen Fächeraufteilung verabschiedet. Stattdessen wird mit einem ganzheitlichen Ansatz gearbeitet. Kreative Problemlösungen und praktisch angewandtes Lernen prägen die Didaktik.

Neben den akademischen Fächern wie Mathematik, Sprachen und Naturwissenschaften haben soziale, sportliche und künstlerische Aktivitäten einen hohen Stellenwert. Jeder Schüler muss mindestens eines dieser “charakterbildenden” Fächer belegen, jeder Lehrer mindestens einen dieser Kurse geben.

Auch die Ausstattung der Schulen entspricht dem ganzheitlichen Ansatz. Neben Klassenzimmern finden sich zum Beispiel Kletterwände und Kreativwerkstätten. Das Land investiert viel in den Bildungsbereich – und Bildung genießt ein hohes Ansehen, ebenso wie die Lehrer.

Lehrer werden dürfen nur die Besten ihres Jahrgangs. Im Vergleich zu anderen Ländern geben sie deutlich weniger Stunden pro Woche, um mehr Zeit für Fortbildungen zu haben. Außerdem wird Kooperation als Pädagogenpflicht angesehen: Unter anderem wird der Unterricht regelmäßig von Supervisoren beobachtet und bewertet.

Bildungswissenschaftler sehen in Singapur ein weltweites Beispiel, wie Investitionen in Bildung zur Entwicklung eines Landes beitragen können: 1960 galt Singapur noch als ein von Massenarbeitslosigkeit und hohem Bevölkerungswachstum geprägtes Entwicklungsland. Heute ist es eine der führenden Industrienationen.

Informatik first: Estland

Estland gilt mittlerweile als das europäische Silicon Valley. Der kleine baltische Staat mit gerade einmal 1,3 Millionen Einwohnern investiert konsequent in Digitalisierung – auch in den Schulen. Informatik ist ab der 1. Klasse Pflicht, ebenso wie der Ganztag für alle.

“Gleiche Bildungserfahrung für alle” lautet der wichtigste Grundsatz der estnischen Bildungspolitik. Der Besuch der Vorschule ist Pflicht. Die Grundschule umfasst die Klassen 1 bis 9. Der Schultag beginnt in der Regel um 8 Uhr und dauert bis 15 Uhr. Für alle Schüler gibt es ein kostenloses Mittagessen. Für Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen stehen zusätzliche Ressourcen bereit. Alle Kinder sollen unter besten Bedingungen lernen können, unabhängig von ihrem sozioökonomischen Background.

Das Schulsystem wird ganzheitlich betrachtet. Deshalb gibt es an den Schulen nicht nur Lehrer, sondern auch Psychologen, Logopäden und Sozialpädagogen. Ziel ist es, eine positive Lernumgebung zu schaffen, in der sich jeder Schüler gut aufgehoben fühlt.

Im Mittelpunkt steht die Förderung des kreativen und logischen Denkens. “Schule muss interessant sein und die Schüler zur Neugierde anregen”, heißt es beim estnischen Bildungsministerium. Eine große Auswahl an Fächern und Lernmethoden soll es allen Schülern ermöglichen, ihren Weg zu finden.

Diese Freiräume haben auch die Lehrer. Im landesweiten Lehrplan sind lediglich die Ziele festgelegt, die die Schüler zu einem bestimmten Zeitpunkt erreichen sollen. Wie die Lehrer den Lernprozess unterstützen, können sie individuell entscheiden.

Eine weitere Besonderheit ist, dass nicht nur in der Schule gelernt wird, sondern häufig auch außerhalb des Klassenzimmers, etwa auf Exkursionen. Umgekehrt soll sich die Gesellschaft auch in den Schulen engagieren. Dazu kommt die Digitalisierung des Unterrichts. Die klassische Schultafel sucht man in Estland vergebens. Sie wurde von Smartboards abgelöst. Jeder Schüler hat einen eigenen Laptop.

Und auch sonst ist die Ausstattung optimal, egal ob es um Musik, Kunst oder Sport gibt. Dafür greifen die Esten tief in die Taschen. 1,2 Milliarden beziehungsweise rund 15 Prozent des BIPs investiert der baltische Staat jährlich in das Bildungssystem.

Studiensteckbrief: Für die repräsentative Studie befragten die Meinungsforschungsinstitute Mentefactum und Kantar Emnid im Januar und Februar 2017 im Auftrag von JAKO-O bundesweit telefonisch 2.000 Eltern mit schulpflichtigen Kindern bis zu 16 Jahre.

Bildquelle: obs/JAKO-O

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